Löwenköpfe, Sandstein und Gold
von Walter Appel
Die Renovierung der ehemaligen Preußischen Hauptwache ist abgeschlossen
Unscheinbar und von der Öffentlichkeit wenig beachtet führte bis vor wenigen Wochen die ehemalige Preußische Hauptwache am Liebfrauenplatz ein Schattendasein. Nun, nach der im Spätjahr 2002 abgeschlossenen Restaurierung, erstrahlt der Bau in neuem Glanz.
Beherrscht wird der im frühen 19. Jahrhundert neu angelegte bzw. umgestaltete Liebfrauenplatz von der großartigen Ostapsis des Mainzer Doms. Einen weiteren städtebaulicher Akzent setzt auf der Nordseite das Barockhaus "Zum Römischen Kaiser" (seit 1930 Gutenberg- museum). Gegen diese eindrucksvollen Bauten konnte sich die auf der Südseite erbaute Hauptwache wenig behaupten. Und seit dem entstellenden Umbau der 1960er Jahre, der das Wachgebäude zu einem Vorbau degradierte, wurde sie nicht mehr als das wahrgenommen, was sie eigentlich baugeschichtlich darstellt: eines der bedeutendsten klassizistischen Bauwerke der Stadt. Zudem erinnert die Wache an die militärische Präsenz der hier seit der Bundesfestungszeit stationierten preußischen Garnison, die nicht unwesentlich das Leben und die städtische Kultur im 19. Jahrhundert geprägt hat.
Mainz als Bundesfestung
Die ehemalige Hauptwache ist ein Bauwerk der Bundesfestungszeit. Sie wurde zu einer Zeit erbaut, als Mainz - nach dem Ende der französischen Herrschaft und nach dem Wiener Kongress - den Status einer Provinzialhauptstadt und Festung des Deutschen Bundes inne hatte. Für die an das neu geschaffene Großherzogtum HessenDarmstadt angegliederte Stadt wurde der Festungscharakter für ein Jahrhundert der bestimmende Faktor. Sitz der Provinzialregierung von Rheinhessen war der Erthaler Hof in der Schillerstraße, heute Sitz des Landesamtes für Denkmalpflege. Die Garnison, die sich vorwiegend aus preußischen und österreichischen Soldaten rekrutierte, wies eine Stärke von 6000 Mann auf Bundesfestung und Militär prägten das städtische Leben. Es gab kaum ein öffentliches Gebäude, das nicht im Besitz der Festung war. Auch ehemalige Adelspalais und säkularisierte Klöster befanden sich in großer Zahl in Händen der Garnison. Die weitläufigen Festungsanlagen wurden immer mehr ins rheinhessische Hinterland ausgedehnt und behinderten die Stadt sowohl bei der wirtschaftlich-industriellen Entwicklung als auch bei der Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum. 1870 galt Mainz als "dichtestbesiedelte deutsche Festungsstadt". Andererseits war die Festung der größte Arbeitgeber, der Deutsche Bund bewilligte große Summen für deren Ausbau; Tagesstärken bis zu 3000 Arbeitern auf den Festungsbaustellen waren keine Seltenheit. Ende der 1840er Jahre wurde Mainz als "modernste Festung" angesehen. Hier lag, im Gegensatz zu Koblenz oder Ingolstadt, die Planungskompetenz sowohl in technisch konstruktiver als auch in architektonischer Hinsicht ausschließlich bei der so genannten Geniedirektion (Militärverwaltung, Abteilung Ingenieurwesen).
Warme, leuchtende Farben
Die Mainzer Garnisonsbauten, von denen u. a. noch das 1863-67 erbaute Proviantamt (Schillerstraße) und zahlreiche Bauten im Bereich der Rheinufererweiterung erhalten sind, haben sich, so Neumann in einer Studie über die Bundesfestung Mainz, "in ihrer Ausgestaltung durch Hausteine und Putz in warmen und leuchtenden Farben der Grundtönung gelb und rot wohltuend von ihrer Umgebung abgehoben". In ihrer burgartigen und vom "Rundbogenstil" geprägten Gestaltung bildeten sie bestimmende Elemente im Stadtgefüge.
Unter "Wache" verstand man im 19. Jahrhundert eine Militärabteilung, die zur allgemeinen Sicherheit von öffentlichen Gebäuden, Magazinen an bestimmten Orten dauernd in Bereitschaft gehalten wurde. 24 Stunden mussten die Soldaten dienstbereit sein, Posten wurden alle zwei Stunden abgelöst. Von einer Hauptwache, die ein Offizier befehligte, wurde u. a. der Garnisonswachdienst kontrolliert. Die Wachhäuser dienten zum Aufenthalt der diensthabenden Mannschaft und besaßen einen beheizbaren Raum. Eine Vorhalle schützte ihren Aufenthalt im Freien bei schlechtem Wetter. Oft wurden Wachgebäude in durchaus anspruchsvoller Weise gestaltet; bedeutende Bauten sind in Berlin, Potsdam und Dresden erhalten.
Scheitelsteine mit Löwenköpfen
Die im Vergleich zu diesen genannten Wachgebäuden weniger bekannte Mainzer Hauptwache kann auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Sie wurde 1829 anstelle des Kreuzgangs der 1793 zerstörten und 1803 gänzlich abgetragenen Liebfrauenkirche errichtet. Der entwerfende Architekt war ein preußischer Ingenieur-Offizier. Der Bautypus entspricht dem zahlreicher im 19. Jahrhundert errichteter Militärgebäude.
Von breiten Eckpilastern gerahmt reihen sich fünf Arkaden, deren mit Löwenköpfe bekrönte Scheitelsteine das Gebälk berühren. Lorbeerkränze als militärische Insignien in der Zone darüber bereichern die repräsentative Fassade. Den oberen Abschluss der Komposition bildet eine ungegliederte Attika. Baulich durchaus vergleichbar ist das 1821 bis 1824 erbaute Burgtor in Wien (sog. Feldseite). Die Pläne dazu lieferten Luigi Cagnola und Peter Nobile - ohne den Wiener Bau jedoch als unmittelbares Vorbild postulieren zu wollen.
Schon im Laufe des späten 19. Jahrhunderts wurde das Mainzer Gebäude seiner ursprünglichen Funktion beraubt und musste andere Aufgaben erfüllen. So wurde die 1902 durch das Hessische Denkmalschutzgesetz als erhaltenswerter Bau eingestufte Hauptwache zur Kunsthalle umgestaltet; bis in die 1930er Jahre hieß sie "Städtische Kunsthalle Plastische Sammlung". 1943 zog das "Kaffee Kaiserhof" ein und änderte den Namen in "Konditorei Kaffee Hauptwache". 1954 wurde die Wache neu gestrichen: "Für die Außenflächen einschließlich des Bogengangs kommt ein lichtes kühles Grau in Frage. Sämtliche Architekturteile (Sockel, Kämpferprofil, Gesimse) sind in einem dunkleren warmen Grau zu streichen. Die Kränze und die Löwenköpfe auf den Schlusssteinen sind in Gold abzusetzen (echtes Gold), der Schlussstein selbst als Untergrund in dunklerem Grau. Ebenso sind die vertieft liegenden Fensterumrahmungen in dunklerem Grau abzusetzen", lautet ein Vermerk in den Akten des Landesamtes für Denkmalpflege.
60er Jahre: vom Abriss bedroht
Mitte der 1960er Jahre erfolgten Umbauarbeiten, die das Gebäude zu seinem Nachteil veränderten: Im Zuge der Erstellung eines zeittypischen Neubaus (Haus am Dom) wurde der rückwärtige Teil des Wachgebäudes abgebrochen (auch sind Teile während der Bauarbeiten eingestürzt), so dass heute nur noch der Fassadenteil erhalten ist. Derartige Abbruchmaßnahmen waren damals an der Tagesordnung; viel wertvolle Bausubstanz ging verloren.
Und man plante noch mehr: Der vollständige Abriss der Wache war "beschlossene Sache." Doch konnten ein Veto des Landesamtes für Denkmalpflege, des Ministeriums für Unterricht und Kultus sowie das Engagement renommierter Mainzer Persönlichkeiten wie des Kunsthistorikers Fritz Arens den Abriss verhindern. Eine rege Diskussion war damals im Gange, zahlreiche Leserbriefe zeugen vom Interesse der Mainzer. Zeitweise dachte man sogar, den Plan zur "Napoleonswache", wie das Bauwerk damals in der Presse tituliert wurde, habe kein Geringerer als der Berliner Architekt Karl Friedrich Schinkel entworfen. Auch ein Wiederaufbau an anderer Stelle wurde in Erwägung gezogen.
Durch die Reduzierung auf die Fassade und die Neugestaltung im Stil der 60er Jahre ging der architektonische Anspruch und ästhetische Reiz des Bauwerks verloren, die Wache war nur noch ein Torso. Aber auch durch die - historisch gesehen falsche Farbgestaltung hatte das Bauwerk seinen ehemaligen klassizistischen Charakter weitgehend eingebüßt. Aufgehoben wurde durch den weiß grauen Anstrich vor allem die einstige blockhafte und gleichermaßen malerische Wirkung. - Beim Anblick der Wache, wie sie sich bis vor kurzem noch präsentiert hat, fühlte man sich eher an eine Architekturkulisse erinnert. Das Erscheinungsbild mit der unschönen Farbgebung entsprach weder historisch noch ästhetisch dem ursprünglichen Entwurf.
Das historische Erscheinungsbild wird ermittelt
Zur Rekonstruktion des einstigen Erscheinungsbildes wertete die Kirchliche Denkmalpflege (die Wache gehört dem Besitz Mainz) alte Pläne und Aufzeichnungen sowie historische Ansichten aus. Unterlagen im Bundesarchiv Koblenz zufolge wurde im November 1826 die Geniedirektion beauftragt, einen Kostenvoranschlag zur Erbauung einer neuen Hauptwache für die preußische Garnison in Mainz zu erarbeiten. "Die Wache sollte als Parterre-Gebäude konzipiert sein und außer einer Offiziersstube und einem Raum zur Aufnahme von 50 Gemeinen der Wachmannschaft sowie der Unteroffiziere nur noch eine Offizier-Arrestanten-Stube enthalten." Als Standort war eine rückwärtige Hofraumseite zwischen der Liebfrauenstraße und dem Dorn mit Blickrichtung auf den Kornmarkt vorgesehen.
Im Koblenzer Bundesarchiv wird ferner eine bemerkenswerte Entwurfszeichnung von 1827/28 aufbewahrt. Sie zeigt vier Ansichten der Wache: Querschnitt, Fassade, Balkenlage und Grundriss. Nach dieser lavierten Zeichnung war die Fassade zunächst als offene Halle in Rustika-Ouaderung konzipiert. Zwischen Arkadenzone und Attika sollte ein kräftiges konsolgetragenes Kranzgesims vermitteln, das einen markanten horizontalen Akzent gesetzt hätte. Das Dach war als flach geneigtes Walmdach angelegt, das harmonisch die Proportionen des Baus bekrönen sollte.
Einen weiteren sehr aufschlussreichen Plan besitzt das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Die kolorierte Zeichnung trägt den Titel "In der Bundes-Festung Mainz neu erbaute Hauptwache" und datiert von 1830.Dieser Plan kann als älteste Ansicht der fertig gestellten Wache bezeichnet werden; er zeigt wiederum Schnitt, Fassade sowie Balkenlage und Grundriss.
Der Berliner Plan zeigt Abweichungen vom älteren Koblenzer Entwurf. Umgestaltet wurde in erster Linie der obere Fassadenteil, Aufbau und Proportionen blieben unverändert. Als belebendes Schmuckmotiv fügte man die malerischen Löwenköpfe oberhalb der Scheitelsteine ein, auf das Kranzgesims wurde verzichtet, das Gebälk durch Profilleisten mehrfach gegliedert und mit sechs Lorbeerkränzen geschmückt. Der Berliner Plan belegt darüber hinaus eindeutig - wie auch die Zeichnung in Koblenz die Ausführung des Arkadengeschosses in einer Rustika-Quaderung, eine seit der italienischen Renaissance übliche Technik: Werk- oder Hausteine in regelmäßiger Form mit meistens grob behauener Sichtfläche und schräger Abkantung (Randschlag) zur Erzielung einer plastischen und wirkungsvollen Wandstruktur.
Neben einer "echten Rustika" kennen wir im 19. Jahrhundert auch aufgeputzte oder aufgemalte, das heißt kostengünstigere Varianten. Dem Denkmalpfleger von heute stellt sich die Frage, in welcher Rustika letztendlich die Mainzer Hauptwache 1829 ausgeführt wurde. Manche Militärgebäude der Stadt wie die 1903/04 abgebrochene Österreichische Hauptwache am Flachsmarkt hatten eine echte Rustika. Bei den vor einiger Zeit an der Hauptwache durchgeführten Untersuchungen wurden jedoch keinerlei Spuren einer abgeschlagenen Rustika entdeckt - warum hätte man auch eine solche ästhetisch ansprechende Oberflächengestaltung akribisch entfernen sollen? Vermutlich war die Rustika an der Hauptwache lediglich aufgemalt. Der Berliner Plan lässt darauf schließen, da man die Rustika offensichtlich später durch eine Neufassung verändert bzw. überstrichen hat. Wir wissen, dass 1836 und 1852 Arbeiten an der Wache durchgeführt wurden, möglicherweise war damit bereits eine Veränderung der Fassade (Farbgebung u. ä.) verbunden.
Jetzige Gestaltung
Dem Entwurf zur jetzigen Neugestaltung der Fassade legte der zuständige Dom- und Diözesankonservator Dr. Hans-Jürgen Kotzur eine rote Sandsteinfarbe zu Grunde, die im Hinblick auf die bauliche Umgebung integrativer und aus gestalterischer Sicht überzeugender wirkt. Zudem zeigt eine in Privatbesitz befindliche kolorierte Lithographie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts die Wache in einem Rotton. Die Pläne in Koblenz und Berlin weisen bei aller Authentizität durchaus auch "idealisierende Momente" auf, so dass sie kaum als ernstzunehmende Farbvorschläge verstanden werden können. Bei der jüngsten Renovierung war ferner eine Wiederherstellung der Fugenmalerei (Rustika-Quaderung) intendiert, auch um die ursprünglichen Proportionen des Baukörpers wieder zur Geltung zu bringen. Die qualitätvollen Löwenköpfe der Arkaden-Schlusssteine wurden im gleichen roten Sandsteinton gefasst, die Lorbeerkränze und das darunter angeordnete Gesims vergoldet. Die Arbeiten führte die Mainzer Dombauhütte aus.
Die abgeschlossene Renovierung soll nicht als ein Rekonstruktionsversuch verstanden werden, sondern vielmehr als eine Neugestaltung unter Auswertung der historischen Pläne und Ansichten sowie unter Berücksichtigung klassizistischer Gestaltungsprinzipien. Die Fassade der ehemaligen Preußischen Hauptwache ist nun wieder ein sehenswertes Baudenkmal, das im Kontext seiner historischen denkmalreichen Umgebung durchaus Eigencharakter entfalten kann und zur Aufwertung des Liebfrauenplatzes beiträgt.
Empfohlene Zitierweise
Appel, Walter: Löwenköpfe, Sandstein und Gold. In: festung-mainz.de [02.06.2006],
URL: <http://www.festung-mainz.de/bibliothek/aufsaetze/festungsgeschichte/hauptwache.html>
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